Kunsthandwerk im Tessin – 1. Anne de Haas

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Das Tessin hat eine grosse Tradition des Kunsthandwerkes. Nicht nur viele Tessiner werden von der Natur im Tessin inspiriert, einmalige Werke zu schaffen. Es sind auch immer wieder Künstlerinnen und Kunsthandwerker aus der restlichen Schweiz und aus dem Ausland in die Bergtäler und an die Seen in der Südschweiz gezogen, weil das Klima offensichtlich zu künstlerischem Tun anregt.

Der Textilkünstlerin Anne de Haas, einer in Zürich aufgewachsenen Holländerin, galt mein erster Besuch.

Tessin Tourismus organisierte vier Atelierbesuche für mich. Dabei lernte ich die Geografie des Tessins etwas besser kennen, denn die Besuche bedingten ziemlich lange Autofahrten.

Mein “Stützpunkt” lag wieder einmal im Haus meines Bruders mitten in Tremona, einem Haus, das einst während drei Jahren vom Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann bewohnt worden war, der die rebellische Stimmung der 1960er-Jahre mitprägte.

Mein Ziel war Beride im Malcantone, nicht das Nachbardorf Meride.

Um dorthin zu gelangen, führte mein Weg über Italien.

Am Luganersee in der italienischen Gemeinde Porto Ceresia lockte der See zum Bade.

Und die Gelateria! “Artigianale” lese ich, sogar Glace produzieren ist hier eine Kunst, ein Kunsthandwerk.

Um es gleich vorwegzunehmen. Ich kann Kunst und Kunsthandwerk nicht voneinander abgrenzen. Wenn ich Handwerker, Kunsthandwerker und Künstler übersetzen lasse, erhalte ich 2x articani. Künstler sind artisti.
Auch im Englisch erscheint 2x craftsmen und 1x artists. Französisch: 2x artisans und 1x artistes. Ich teste unterschiedlichste Sprachen: Nur im Deutschen finde ich diese Unterscheidung: Handwerker – Kunsthandwerker – Künstler.

Vielleicht sollte ich einfach verstehen, dass viele Handwerker bedeutendere Künstler sind als manche selbsternannten Künstler.

An den alten Häusern in Porto Ceresia nagt gut sichtbar die Zahn der Zeit an den Werken von unbekannten Kunsthandwerkern.

Ich liebe den Charme, den diese Zeugen alter Zeit, alter Handwerkskunst, ausstrahlen.

An der Grenze zwischen Italien und der Schweiz kommen mir immer Schmugglergeschichten in den Sinn, aber auch die Wanderungen von Tessiner Jungen, die als Kaminfeger, Spazzacamini, Kindersklaven, nach Mailand wanderten.
Die Autoren von “Die schwarzen Brüder”, Lisa Tetzner und Kurt Held, waren quasi “schreibende Kunsthandwerker”, die – wie beispielsweise Hermann Hesse oder Erich Maria Remarque – im Tessin einen Ort fanden, wo sie leben und arbeiten konnten.

Als Treffpunkt mit Anne de Haas fand ich in meinem Programm “Gemeindeparkplatz” in Beride. Biogno-Beride liegt 515 Meter über Meer, ich musste mich nach Ponte Tresa ziemlich den Berg hinaufschrauben. 1902 hatte die Gemeinde 153 Einwohner. Heute scheinen es auch nicht viel mehr zu sein.
Gemeindparkplatz? Ich fand kein Gemeindehaus, zudem gab es zwei Ortsteile Beride.
Ich parkte einfach auf dem erstbesten Parkplatz.

Ich setzte mich nach einer kurzen Orstbesichtigung auf ein Mäuerchen beim Parkplatz und schaute die Strasse rauf und runter. In the middle of nowhere, am A… der Welt, so fühlte ich mich.

Sass einfach da und wartete.

Und wie immer stachen mir Fotomotive ins Auge. Diese Türe und die Hortensien…

Am Schluss meines Besuches realisierte ich, dass es das Haus von Anne de Haas und ihrer Familie war, dass ihr Mann und ihre Tochter hier Weinbau betrieben und dass deren Weine zuhause, 15 Meter von meiner Haustüre entfernt, in der Weinhandlung am Küferweg verkauft werden.

Aber der Reihe nach. Anne de Haas erlöste mich vom Mäuerchen und führte mich über eine steile, freistehende Wendeltreppe in ihr Atelier, in ihre Welt der Textilien.

Hier knallten mir Farben entgegen.

Spulen mit Seidenfäden in kräftigen, leuchtenden Farben.

Intensive Farben und vielfältige Netzstrukturen.

Und Kleider, Unikate, professionell geschneidert und genäht, mit erstaunlichen, kreativ gestalteten Details, aus hochwertigen Materialien,  aufwändig verarbeitet. Am liebsten würde man die Stoffe mit den unterschiedlichsten Strukturen ertasten, das feine Material streicheln…

Ich versuchte, meine Finger im Zaum zu halten und liess meine Augen streifen.

In diesem Atelier herrschen Chaos und Ordnung zugleich. “Geniale Menschen finden sich nur im Chaos zurecht”, habe ich mal gelesen. Und: “Es ist nichts als Chaos, sagte die Gelassenheit, und lächelte still…”
Gelassenheit strahlt Anne de Haas heute aus, aber man ahnt, dass es wildere Zeiten gab. Zeiten, in denen sie sich heftig für den Zusammenschluss der Kunsthandwerker im Tessin engagierte. Zeiten, in denen sie sich für die Wertschätzung des Tessiner Kunsthandwerks einsetzte. Zeiten, in denen sie intensiver als heute versuchte, ihre Produkte zu vermarkten. Es lebe die AHV!

Wer so arbeitet wie Anne de Haas, mit hochwertigen, edlen Materialien und zeitintensiven Techniken, bekommt heute nie den Preis, den ein Kleidungsstück tatsächlich wert ist.
Heute weniger denn je.

Mitten im Raum steht ein grosser Webstuhl. Irgendwie archaisch. Gab es lange vor dem Christentum nicht eine grosse Göttin, die das Leben erschuf und den Lebensfaden webte? Eine Schicksalsweberin. Die Weberin, die Magierin des Lebens.

Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich die kreisrunden Jahreszeiten und die Monate betrachte. Im Winter in der Farbpalette Schwarz-Braun-Weiss sind beispielsweise Fundstücke aus der Natur eingewoben.

Es sind kreisrunde Geschichten, die Anne de Haas geschaffen hat und Geschichten, die sich jeder Betrachter anders erzählt.

Man erkennt, wie lustvoll Anne de Haas ausprobiert. Erst auf der langen Erfahrung können solche Werke wie der Zyklus “die Jahreszeiten” entstehen.

Die gelernte Modezeichnerin gab auch Kurse, beispielsweise im Museum Ballenberg oder im Berufswahljahr für Jugendliche.

Zudem webt sie edle Halstücher und entwirft auch textilen Schmuck.

Sie erzählt, wie sie zuerst lockere, auf Vierecken basierende Kleidungsstücke hergestellt hat. Mit dem Wunsch nach mehr Körperbetonung entwickelte sie eine Raff-Technik, mit der sie Kleider körperschmeichelnd “modellierte”.
Gleich zu Beginn fiel mir Anne de Haas’ Kleid auf. Intensive Farben leuchten aus Schwarz und dunklem Grün. Sie hat es selbst entworfen und genäht, aus einem Stoff, den ihr jemand aus Afrika mitgebracht hat.

Nun hat sie dazu Seidengarn eingefärbt, ein Modell gezeichnet und ist daran, den Stoff dafür zu weben.

Ich hätte noch ewig mit Anne de Haas plaudern können, über das Älterwerden und die Freiheit des Alters, übers Nähen und Weben. Auch sie kennt und liebt Haslach im Waldviertel im Nordosten von Österreich. Der Ort, wo sich Webende treffen, wo Weben unterrichtet, vervollkommnet, zelebriert wird. Das Waldviertel ist eine meiner Lieblings-Reisedestinationen.

Ins Tessin kam Anne de Haas bereits in den 1980er-Jahren. Ihr Mann, Christian Zündel, an der ETH Zürich ausgebildeter Wissenschaftler für Bodenkunde, verwirklichte seinen Traum, im Tessin Wein anzubauen. Seit 2003 arbeitet er nach biodynamischen Ansätzen, seit 2019 werden die Weine auch durch Demeter zertifiziert. Nach abgeschlossener Winzerinnenlehre und Praktikas im Ausland arbeitet auch Tochter Myra im Betrieb mit.

Für die Etikette des Rosés “Rosamunde” übernahm sie eine Modezeichnung, die ihre Mutter vor vielen Jahren entworfen hatte.

Ein Besuch in Beride lohnt sich also auch wegen dem Besuch im Weinkeller.

Lasst uns immer in den grossen Traum des Lebens
kleine bunte Träume weben.

Jean Paul (1763 – 1825)

Notizen vom Atelier

Anne de Haas ist im Sommer 2021 im Freilichtmuseum Ballenberg tätig.
Informationen Websommer_Kurszentrum_Ballenberg_2021

Nachtrag
Über einen ähnlichen Namen wie “de Haas” bin ich eben gestolpert. Es gab im 15. Jahrhundert einen flämischen Tapetenkünstler, maétre-tapissier, mit dem Namen Jean de Haze. Der Begriff “Tapete” kommt vom Lateinischen “tapetum”, mittellateinisch tapeta = Decke, Teppich. Er hat also Wandteppiche gewirkt, mit einer dem Weben eng verwandter Technik.
Er schuf 1466 einen Wandteppich, den man “Tausendblumenteppich” nennt und den man im Historischen Museum in Bern bewundern kann. Er ist 306 cm hoch und 687 cm breit, ein unteres Drittel fehlt, es wurde möglicherweise in der Zeit der Burgunderkriege bei der Beuteteilung nach der Schlacht bei Grandson, 1476, abgeschnitten.
Und nun kehren wir wieder zurück zu einer heutigen Künstlerin, der Floristin Floristin Andrea Lehmann. Sie liess sich vom berühmten Wandteppich „millefleurs” im Historischen Museum Bern inspirieren. Der Plan war, ihre Neuinterpretation an der Museumsnacht 2020 mit dem Publikum zu installieren, aber die Museumsnacht fand ja nicht statt…. Klemens und Hanna Schiess schufen gemeinsam einen kleinen Dokumentarfilm.
Film

Musik
Musik aus der Zeit Karls des Kühnen.

BurgunderBei Anne de Haas kommt mir das Lied “De Colores” mit Joan Baez in den Sinn.
Sabina Ruhstaller – Spinnen und Weben

Informationen
aticrea: Tessiner Künstlerverband. Hier findet man Namen und Adressen von Kunsthandwerkern, die man im Atelier besuchen darf und bei denen man einen Kurs buchen kann.
Anne de Haas – Atelier Tessile, 6981 Beride,  041 77 447 82 10
Wein Christian und Myra Zündel
Weinhandlung am Küferweg
Tessin Tourismus
Textilmuseum St. Gallen – immer ein Besuch wert
Textile Kultur Haslach, Webereimuseum

Dank
Ich danke Anne de Haas für die geschenkte Zeit. Jutta Ulrich von Ticino Tourismus für das Organisieren der Besuche bei den Kunsthandwerkern und den gemütlichen Abend im Grotto del Mulino in Morbio Inferiore.
Ich bin immer wieder gern in Tremona bei meinem Bruder – Danke für die Gastfreundschaft.

Buchtipp
Weben lernen sollte man bei erfahrenen Weberinnen. Ein Buch kann aber das Wissen ums Weben vertiefen und motivieren, sich in einem Kurs erste Kenntnisse anzueignen.
Handbuch Weben

Geschichte, Materialien und Techniken des Handwebens

Das Weben gehört zu den frühesten handwerklichen Erfindungen und auch heute sind gewebte Textilien nicht aus unserer Welt wegzudenken. Wir hüllen uns in sie, schmücken unsere Fenster und Böden mit ihnen und verwenden sie täglich, oft ohne es bewusst zu realisieren.
Dieses Buch schaut zurück auf die Anfänge der Webkunst und zeichnet die Entwicklung der Webgeräte und Techniken nach. Es stellt die wichtigsten Materialien und Geräte vor und führt Schritt für Schritt in die Handweberei ein, von der Gewebeplanung über die vorbereitenden Arbeiten am Webstuhl bis zum richtigen Arbeitsablauf. Das Kapitel zur Bindungslehre gibt einen anschaulichen Überblick über die wichtigsten Bindungen. Der letzte Teil bietet die Gelegenheit zum Nacharbeiten von Webstücken.
Die erfahrene Webmeisterin Erika Arndt gibt Einblick in eine alte und immer wieder aktuelle Handwerkskunst und lässt sich über die Schulter blicken: mit vielen Tipps und Tricks zeigt sie, dass auch Anfängerinnen und Anfängern der Einstieg ins Handweben gelingen kann.

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  1. Paul und Theres

    Herzlichen Dank für diesen wunderbaren Bericht über das Kunsthandwerk im Tessin. Wir haben uns schon oft Gedanken gemacht, wie man dieses Handwerk erhalten und die Künstler unterstützen könnte. Es lohnt sich ganz sicher, denn einer Welt ohne Kunst/Handwerk/Künstler fehlt etwas ganz Wesentliches. Die Bilder von dieser schönen Gegend sind Beweis, auch ein einfaches Leben hat seinen Reiz.
    Liebe Grüsse
    Paul und Theres

  2. ritanna

    Danke, danke für alles was Du uns zeigst, beschreibst vom und im Tessin. Man muss es gesehen und erlebt haben – so kann man es “annähernd” schätzen und lieben.
    In den 70ziger Jahren konnte man alte Kleider ins Onsernonetal schicken und man bekam für relativ wenig Geld einen wunderschönen, farbig gewobenen Teppich zurück, der bis heute hält. Herzlichen Dank für den Einblick.

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