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Vor langer, langer Zeit lebten eine Königin und ein König in ihrem Schloss. Zum vollkommenen Glück fehlte jedoch ein eigenes Kind. Die Königin ging zu einem Spezialisten, der versprach: „Dein Wunsch wird erfüllt werden. Noch ehe ein Jahr vergangen ist, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.“ Und siehe da, es klappte, denn die Natur hatte klammheimlich ein Einsehen.

Die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der König sich vor Freude nicht fassen konnte. Er organisierte seiner Tochter zu Ehren ein grosses Fest. Dazu stellte er 13 grosse Tische auf und lud ein, was Rang und Namen hatte.

Als Hauptattraktion wollte er die 13 Feen seines Landes zum Tafeln an einen der 13 grossen Tisch einladen, nicht ohne Absichten. Sie sollten mit ihren besonderen Gaben seine Tochter profilieren. So sind Eltern nun mal: Wollen das Beste für ihre Kinder und packen es manchmal ziemlich dumm an. Im Königsschloss gab es nämlich lediglich zwölf goldene Teller für Ehrengäste. Deshalb schickte der König seinen Boten mit zwölf Einladungen los. Die eine aber, Sophie, eine unbequeme, eigenwillige, quere Person, lud er nicht ein.

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Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die Feen das Kind eine nach der anderen mit ihren Wundergaben:

  • Die erste mit Schönheit,
  • die zweite mit Reichtum,
  • die dritte mit Moral,
  • die vierte mit Geduld,
  • die fünfte mit Leistungsstärke,
  • die sechste mit Intelligenz,
  • die siebte mit Kommunikationstalent,
  • die achte mit Perfektionismus,
  • die neunte mit Anpassungsfähigkeit,
  • die zehnte mit Konsequenz und
  • die elfte mit Gesundheit.

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Und noch bevor die zwölfte Fee ihren Wunsch getan hatte, platze Sophie, die ungeladene 13. Fee, in den Festsaal.

Sie strahlte unter ihrem violetten Hut hervor, rückte die runde Brille und den Flatterrock zurecht, strich eine ihrer wilden roten Locken aus dem Gesicht und lachte ihr eigenwilliges Lachen, sodass ihr grosser Busen wackelte.

Sie strahlte das kleine Mädchen in der Wiege an und zählte auf:

  • Statt Schönheit wünsche ich Dir Ausstrahlung,
  • statt Reichtum, die Fähigkeit, gut für dich selbst zu sorgen und Grosszügigkeit,
  • statt Moral Ethik und die Fähigkeit, sich immer wieder neu eine eigene Meinung zu bilden,
  • statt Geduld einen guten Umgang mit der Zeit,
  • statt Leistungsstärke Leichtigkeit und Freude daran, sich für etwas einzusetzen;
  • statt Intelligenz Lebensklugheit und Spass am Denken,
  • statt Kommunikationstalent Einfühlungsvermögen und Freude an der Sprache,
  • statt Perfektionismus Kreativität und Toleranz,
  • statt Anpassungsfähigkeit Eigenwilligkeit und Respekt,
  • statt Konsequenz den Mut, immer wieder neu zu entscheiden und
  • statt Gesundheit die Liebe zum eigenen Körper.
  • Damit hatte sie die Wünsche ihrer Kolleginnen gerade noch umbiegen können – und nun war auch ihre Wunschenergie aufgebraucht.

Leider hatte Sophie nicht richtig gezählt und war vor lauter Ungeduld mal wieder zu früh losgeplatzt.

Die zwölfte Fee, die nun noch einen Wunsch frei hatte, stellte sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit und tat ihren einen Wunsch, um alle guten Wünsche von Sophie auszumerzen und ihr eins auszuwischen. Dabei dachte sie nicht mehr an das kleine Mädchen in der Wiege, dem sie nun wünschte: „Ich wünsche Dir keinen Selbstwirksamkeitsglauben!“

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Die kleine Prinzessin hatte nun alle möglichen positiven Eigenschaften, aber es fehlte ihr der Glaube daran, diese wirkungsvoll einsetzen zu können. Mit zunehmendem Alter wurde sie zorniger, denn sie hatte ihre eigenen Werte, Wünsche und Ideen. Aber sie konnte sie nicht realisieren, weil sie nicht daran glaubte, es auch zustande zu bringen.

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Das kleine Mädchen spürte je älter sie wurde desto stärker Zorn, Ohnmacht und Traurigkeit.

Wenn sie weinte und die Tränen zu Boden fielen, wuchsen Rosen, sogenannte Zornröschen. Auch die Prinzessin nannte man bald nur noch Zornröschen – so sollte sie in die Märchenliteratur eingehen. Doch auch daran konnte sie nicht glauben, deshalb ist diese Geschichte, oder ein Teil davon, wohl kein Märchen. Zudem sind Feen mit ihren Wunscherfüllungen oft keine weisen Frauen.

© 2017, Regula Zellweger

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Wenn du eine Rose schaust, sag ich lass sie grüssen.

Heinrich Heine, 1797-1856