Frechmutige Kinderbücher

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img_4377Kinderbücher haben mich mein ganzes Leben begleitet. Ich sehnte mich nach dem Tessin wegen den “Schwarzen Brüdern”, der “Schellenursli” lockte mich ins Engadin und Enid Blyton weckte eine ewige Sehnsucht nach Südengland. Noch heute saugt es mich magisch in die Kinderabteilungen von Buchhandlungen – und selten verlasse ich den Laden ohne ein neues Bilderbuch. Bücher haben meine Kindheit geprägt – und damit auch meine Persönlichkeit.

Vor allem aber tankte ich als Kind bei der Lektüre Mut, weil ich den Protagonisten nacheifern wollte. Ich mag freche Kinderbücher.

Kinder- und Jugendliteratur gibt es aber noch gar nicht so lange und in den ersten hundert Jahren dienten Bücher für Kinder vor allem für das Vermitteln von Moral. Seit 40 Jahren aber versuchten unzählige Bilder- und Kinderbuchautoren mit frechmutigen Protagonisten Kindern Mut zu machen und ihren Selbstwert zu stärken.

Bereits 1844 wollte der Arzt Heinrich Hoffmann mit seinem Struwwelpeter Kinder in dem Sinn erziehen, dass sie Gefahren erkennen und vermeiden. Nach Astrid Lindgren versuchten unzählige Bilder- und Kinderbuchautoren mit frechmutigen Protagonisten Kindern Mut zu machen und ihren Selbstwert zu stärken.

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Die Eltern von Paulinchen gehen aus und lassen sie mit den beiden Katzen Minz und Maunz daheim. Als Paulinchen Zündhölzer entdeckt, entzündet sie diese. Die Katzen warnen – vergebens. Paulinchens Haare und Kleider fangen Feuer und sie verbrennt bis auf die Schuhe, während die beiden Katzen Ströme von bitteren Tränen vergiessen. Welch schreckliche Geschichte! Ist das wirklich was für Kinderaugen und -ohren?

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Auf dem Frankfurter Friedhof findet man das Grab von Pauline Schmidt. Sie lebte von 1840 bis 1856. Dieses Paulinchen gab es wirklich. Es erlag Brandverletzungen. Solche hatte der Arzt Heinrich Hoffmann immer wieder zu behandeln. Um Unfälle zu verhüten, schrieb er seinen Struwwelpeter, der in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts nicht als Zeichen seiner Zeit verstanden wurde, sondern eine Gegenbewegung auslöste. Denn Kinderliteratur bis Astrid Lindgren triefte meist von Moral und festigte Rollenklischees.

kurt-held-die-rote-zora-und-ihre-bandeBereits 1941 erschien aber im Sauerländer Verlag „Die Rote Zora und ihre Bande“ des in der Schweiz lebenden Emigranten Kurt Held. Um zu überleben werden die rote Zora und ihre Freunde zwar kriminell, doch innerhalb ihrer Gemeinschaft halten sie sich an feste Regeln. Ihr oberstes Gebot heißt Solidarität. Der Einzige, der sich mit ihnen verbunden fühlt, ist der alte Fischer Gorian. Ihm helfen die Kinder, sich gegen die großen Fischfanggesellschaften durchzusetzen. Damals schon ein Buch gegen Rollenklischees, soziale Ungerechtigkeit und die Ausbeutung der Natur durch grosse Unternehmen.

51bnyyix9klPippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf vereinigt in sich viele Sehnsüchte und Eigenschaften, die sich Kinder wünschen: ein eigenes Pferd, ein eigenen Haus, die Villa Kunterbunt, sie darf anziehen und essen, was sie will und sie hat Mut und Bärenkräfte. Astrid Lindgren erfand die Figur Pippi ursprünglich im Winter 1941 für ihre kranke siebenjährige Tochter Karin. Erst 1944, hundert Jahre nach der Geburt des Struwwelpeters, schrieb sie die Geschichte auf und zeichnete auch Pippi mit den Ringelstümpfen, Sommersprossen und den abstehenden roten Zöpfen.
Pippi Langstrumpf gilt als literarisches Vorbild für die Frauenbewegung, denn sie wehrt sich gegen die traditionellen Rollenbilder. Das Buch hat Generationen von Mädchen Mut zum Frechmut gemacht.

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Der amerikanischen Illustrator und Autor Maurice Sendak, brachte 1963 die Geschichte von Max heraus. Max hat sich sein Wolfskostüm angezogen und macht Unfug. Seine Mutter schimpft ihn „wilder Kerl“ und schickt ihn ohne Abendessen ins Bett. Das Zimmer von Max verwandelt sich in einen Wald. Max steigt in sein Segelboot und fährt zu den wilden Kerlen, grossen Monstern, die sich von ihm zähmen lassen und ihn zu ihrem König machen. Aber Max bekommt Heimweh – und Hunger, so ohne Nachtessen – und segelt zurück. Wieder in seinem Zimmer angekommen, stellt er fest, dass das Abendessen auf dem Tisch steht und noch warm ist. Sendak nannte den Jungen Max „meine tapferste und daher auch meine liebste Schöpfung“ und schätzte auch die wilden Kerle, „die nicht angelegt sind, es jedem recht zu machen – nur Kindern.“ Weniger Begeisterung löste die Geschichte vom wilden Max bei den Pädagogen dieser Zeit aus. Denn Max war frech und mutig – und der Frechheit musste Grenzen gesetzt werden.

Heute tummeln sich freche, aufmüpfige, kreative, mutige Kinder oder Tierfiguren mit grösster Selbstverständlichkeit in der Kinderliteratur. Kindern – und Erwachsenen – soll man Mut machen. Mut, den eigenen Weg zu gehen. So wie beispielsweise die „allerbesten Freunde“. Gemeinsam setzen die unterschiedlichen Freunde frechmutig ihre Träume um, beispielsweise den Traum vom Fliegen – mit dem Flugalong. (Orell Füssli Verlag)

Klara Gluck liebt Eier, und mutig geht sie hinaus in die Welt, um verlassene Eier einzusammeln. Vor keiner Gefahr schreckte sie zurück, um zu den Eiern zu kommen. Sie fand ziemlich viele, grosse und kleine. Diese brütete sie aus. Und nach dem Schlüpfen war die Überraschung gross. (Orell Füssli Verlag)Image result for Klara Gluck

Auch Zootier ist ein Beruf, das findet auch Herr Nashorn. Und wer einen Beruf hat und somit arbeitet, hat Anrecht auf Ferien. Also macht sich Herr Nashorn auf den Weg nach Afrika. Bereits in der U-Bahn belegt er frechmutig mit seinem dicken Hintern zwei Sitze – wie anders? Herr Nashorn geniesst seine Ferien und sammelt Geschenke für seine Freunde im Zoo. (Orell Füssli Verlag)

Frechmutig ist auch Rosa, die Maus, die sich mit dem Leoparden Rigo anfreundet: „Ich bin Rosa. Komm her und beschütze mich.“ Eigentlich fände es Rosa schön, wenn auch mal jemand Angst für ihr hätte und bittet Riga darum. Ernst antwortet er: „Nein, das geht nicht. Ich kann keine Angst vor dir haben, weil ich dir vertraue.“

Ich würde gern unzählige frechmutige, vielschichtige Kinderbücher vorstellen – und es würde auch Spass machen – aber vielleicht lassen sich meine Blog-Leserinnen und -Leser begeistern, selbst eine Buchhandlung oder eine Bibliothek aufzusuchen und frechmutig einen Nachmittag lang Kinderbücher zu geniessen – und sich eines zu kaufen, das man als Symbol für die Freude am eigenen Frechmut zuhause so hinlegt, damit es einen immer mal wieder daran erinnert: Frechmut macht Spass.

• Allerbeste Freunde. Das Flugalong, Antje Bohnstedt, Orell Füssli, 2016, 32 S., ISBN 978-3-280-03511-5, CHF 19.90

• Klara Gluck, Emma Levea, Orell Füssli, 2016, ISBN 32 S., ISBN 978-3-280-03489-7, CHF 21.90 • Herr Nashorn macht Urlaub, Raphaël Baud und Aurélie Neyret, Orell Füssli, 2016, 36 S., ISBN 978-3-7152-0704, CHF 24.90

• Riga und Rosa, Lorenz Pauli, Kathrin Schärer, Orell Füssli, 2015, 128 S., ISBN 978-3-7152-0710-0, CHF

Bücher sind die Nahrung der Seele.

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  1. Manuela Bruggisser

    Liebe Bloggerin
    Herrlich dein Beitrag über Kinderbücher, die auch meine Bücher-Leidenschaft nähren und mich immer wieder in Erstaunen und Faszination versetzen durch ihre Klarheit und Herzenswärme 🙂
    Ich freue mich deine Schreibkunst in neuen Themen zu geniessen…
    Toll – dein Frechmut ubd dein Aufbrechen zu neuen Ufern…
    … und das zum 1. Advent :-)!

  2. Susanne Crimi

    Liebe Regula
    wie ich das auch kenne…Kinderbücher haben tatsächlich eine besondere Anzeihungskraft – sie riechen auch immer gut. Meine beiden Lieblinge sind Eisbär Lars und Frederik mit seinen Farben…mittlerweile hab ich diverse Enkel und kann hie und da zusammen mit Ihnen herausfinden, wie der Unterschied im Geschmack sich darstellt, wer warum und wieso von der einen oder anderen Geschichte oder den Bildern angezogen wird…auch spannend!

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