Reetdachdecker auf Usedom

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Eine Ferienregion bekommt eine besondere Bedeutung, wenn man Berufsleute besucht und interviewt.
So lernt man eine Gegend, aber auch faszinierende Menschen mit Begeisterung für ihren Beruf kennen.

Holger Labahn ist ein gutes Beispiel für Menschen, die als Ostdeutsche die Wiedervereinigung Deutschlands genutzt und ein florierendes Unternehmen aufgebaut haben.

Als Holger Labahn 1991 seine Lehre als Kfz Schlosser abschloss, war es fast unmöglich, eine Arbeitsstelle zu finden. Deshalb ging er 1992 aufs Dach. Die Rohrdach- oder Reetdachdeckerei hatte ihn schon vorher interessiert, in Zusammenhang mit Erfahrungen beim Decken des Dachs des Elternhauses.

1999 gründete er mit seinem damaligen Chef eine GbR, Gesellschaft bürgerlichen Rechts, einen ein Zusammenschluss von mindestens zwei Gesellschaftern. GbR ist in Deutschland die ursprüngliche und einfachste Form der Personengesellschaft. Ab 2001 hatte er seine eigene Firma.

Unterdessen ist er Rohrdachmeister und beschäftigt vier Angestellte, alles Quereinsteiger in den Beruf.

Schilf ist eine erstaunliche Pflanze, die wegen ihrer besonderen Eigenschaften seit Jahrhunderten von Menschen genutzt wird. An der Ostsee wächst Schilfrohr hinter den Dünen, trotz Salzwasser. Leider reicht die Menge nicht aus für den Bedarf an der Ostseeküste, wo Rohrdächer langjährige Tradition haben.

Holger Labahn kauft deshalb auch geputztes und gebundenes Schilf aus dem Ausland, beispielsweise aus Slowenien. Am liebsten hat er aber Schilf aus Usedom und Rügen.

Reetdächer sind umweltfreundlich und sorgen für ein ausgezeichnetes Wohnklima. Sie haben eine hervorragende Isolationswirkung gegen Hitze und Kälte und halten zwischen 30 und 50 Jahren.

Das Besondere an Rohrdächern ist die steile Dachneigung. Damit wird sichergestellt, dass das Wasser von Halm zu Halm abtropfen kann. Ein frisch verlegtes Rohrdach ist goldgelb wie das Schilf. Erst nach einigen Monaten bekommt es seine typisch graubraune Farbe.

Der Reetdachdecker kommt zum Einsatz, wenn der Zimmermann seine Arbeit am Dach beendet hat – oder wenn ein Reetdach ersetzt werden muss. Und wenn Marder im Dach gewütet haben.

So geschieht es gerade am östlichen Ortsrand kurz vor der Grenze nach Polen beim historischen Pavillon des früheren Kaiser-Wilhelm-Kinderheims, das 1912 und 1913 erbaut wurde. Später diente es als Erholungsstätte für Kinder, deren Eltern in Berliner Grossbetrieben beschäftigt waren.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1949 befand sich im ehemaligen Kinderheim ein Stabsquartier der Sowjetischen Streitkräfte.
Heute machen hier wieder Jugendlich Ferien.

Reetdachdeckerei ist reine Handarbeit. Holger Labahn zeigt mir seine Werkzeuge. Messer und Brettschneider dienten früher zum Kürzen der Halme. Die Klingen wurden aus Sensenblättern gefertigt und mit einem Handgriff versehen.

Heute benutzen die Rohrdachdecker meist Heckenscheren. Der Reisshaken wird zum Abreissen alter Reetdeckungen verwendet und besteht aus einer gebogenen Schneide, die mit einem Holzstiel verschraubt ist.


Ein weiteres wichtiges Hilfsmittel für die Deckung von Schilfdächern ist das Klopfbrett, ein bis zu 22 × 40 cm grosses, mit vielen Vertiefungen versehenes Holz- oder Aluminiumbrett, das mit einem Handgriff und einem Dorn auf an der Oberseite versehen ist.

Mit dem Klopfbrett wird die Dachhaut gerade geklopft und das Deckmaterial in eine gleichmässige glatte Fläche gebracht, sodass eine bessere Spannung der Halme entsteht.

Die Dachdecker balancieren mit grosser Sicherheit auf dem Dach.

Deckstühle sind ein wichtiges Hilfsmittel, um sich auf dem Dach schnell und sicher zu bewegen.
Ein Deckstuhl besteht meist aus einer Standfläche mit drei bis vier Tritten und hat die Form einer kurzen Leiter. An der Unterseite befinden sich Eisenhaken, die an die darunterliegende Dachlatte gehängt werden.

Ich lerne, dass es verschiedene Firsteindeckungen gibt.

Auf Usedom ist die Mecklenburger Stosslage traditionell.
Es gibt auch den Heidefirst aus gemähtem Heidekraut, den Haferstrohfirst und den Grassodenfirst. Auch Kupfer und Tonziegel können zum Einsatz kommen.

Holger Labahn verschweigt auch nicht die Nachteile seines Berufes: „Alles, was wir anfassen, ist schwer.“ Die Gelenke leiden.

Ewig wird er seine Arbeit nicht ausüben können. Er hat aber vorgesorgt. Er renoviert alte Häuser und vermietet sie als Ferienhäuser. Lachend meint er: „Ferienhäuser mit Reetdach vermieten sich besser!“

Ein Reetdach vereinigt viele Vorteile, vor allem impliziert es Geborgenheit – und das wünschen wir uns in dieser hektischen Zeit doch alle.

Ob man mit einer Leiter, einem Seil oder einer Treppe auf das Dach des Hauses gelangt, ist nicht wichtig. Ebenso ist es mit den Religionen.
Hindu-Weisheit

 

Musik
Reinhard Mey: Männer im Baumarkt
Handwerkerlieder
Dachdeckerpolka

Railtour bietet Reisen nach Usedom an.
Usedom Tourismus GmbH

Ich danke Katherine Rolli von Tourmark und Karina Schulz von Usedom Tourismus für die Organisation der Reise.

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Vacherin Mont-d’Or – ein Herbstgenuss

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Zeesenbootskipperin auf Usedom

  1. Ritanna

    Da habe ich Riesenfreude, wenn ich so einem Handwerker über die Schulter auf die Finger gucken kann. Rohrdachdecker, will ich mir merken. Bei uns noch im Nachbardorf stehen, standen die letzten Strohdächer, schilfbedeckte Häuser – in der Nähe der Stillen Reuss. Genau, die Dächer, heute nicht mehr mit Stroh be-deckt, sind steil. In der Schweiz gibt es noch ein paar Holzschindeldächer, die unter Natur- und Heimatschutz stehen. Je nach Wetterbeanspruchung halten die Dächer zwischen 50zig und mehr Jahre. Ein Bauernhausdach kommt dann kostenmässig auf seine Hunderttausendfranken. Den Besitzern geht es jeweils wie der Zeesen- Bootsbesitzerin – es kostet – und -woher nehmen?
    Mein Beitrag ist für diese erhaltenswerten Häuser, auf Einzahlungsschein für den Natur- und Heimatschutz.
    Da kommt mir grad noch eine Frage; ausser Marder, benützen auch Vögel diese Schilfdecken als Wohnung?
    Also, ein grosses Kompliment für diesen Beitrag. Jetzt begreife ich, wieso meine Nachbarn jedes Jahr in den Norden in die Ferien fahren.

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