Ritter Konrad Wackerbarth hat im Mittelalter die Stadt Mölln gegründet. Klingt schon vielversprechend.
Bekannt gemacht hat aber Till Eulenspiegel die Stadt.
Mölln ist noch ein schwarzer Fleck auf der persönlichen Landkarte? Die kleine Stadt liegt an der Alten Salzstrasse von Lübeck nach Lüneburg, rund 30 Kilometer südlich von Lübeck.
Im Gebiet im Südosten von Schleswig-Holstein, an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern, findet man die liebliche Landschaft mit rund 40 Seen und den beiden Städten Mölln und Ratzeburg.
Mölln hat wie viele Orte im Norden Deutschlands auch Zeiten unter der Herrschaft von Dänemark erlebt.
Durch Mölln führt der älteste Wasserscheidenkanal Europas, der 1398 fertiggestellte Stecknitzkanal. Er ermöglichte den Salztransport zu Wasser. Gemeinsam mit der Alten Salzstrasse von Lüneburg nach Lübeck steigerten diese Verkehrsverbindungen die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt.
Der Reichtum aus Lübecker Zeit spiegelt sich noch heute im alten Stadtkern wider.
Sogar zu Österreich gehörte die Stadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Von 1929 bis 1931 befand sich ein Aufnahmelager für insgesamt 5650 deutschstämmige Mennoniten aus der Sowjetunion, von denen die meisten weiter in die USA und nach Brasilien auswanderten. Während des Zweiten Weltkrieges wurden viele Ostarbeiter in Mölln zu Zwangsarbeit gezwungen.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges trafen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ein. Am 3. Februar 1945 kam ein erster grosser Flüchtlingszug aus 600 Frauen und Kindern die Stadt. In den folgenden Tagen und Wochen trafen erreichten Flüchtlingstransporte Mölln. Die Stadt hatte 1939 6300 Einwohner, 1944 schon 8900 und 1945 über 13’000. Heute sind es knapp 20’000 Einwohner.
1949 wollte die Stadt George Bernard Shaw zum Ehrenbürger ernennen. Er sollte als „Ehren-Eulenspiegel“ geehrt werden, was er dankend ablehnte. Er wurde daher “honorary citizen”. Und blieb bis heute der einzige Ehrenbürger Möllns.
1992 starben bei einem von zwei Neonazis verübten Brandanschlag auf zwei Wohnhäuser zwei türkische Kinder und deren Grossmutter. Als Reaktion der Bevölkerung wurde in der Möllner Altstadt die Internationale Begegnungsstätte Lohgerberei gegründet.
Eine besondere Sehenswürdigkeit ist die gut erhaltene Altstadt.
Sie wird überragt von der backstein-gotischen Kirche Sankt Nicolai.
Ich war mit dem 9-Euro-Ticket von Hamburg kommend morgens sehr früh bei der Kirche und traf hier einen Jugendlichen in Pfadi-Uniform, der quasi ohne Geld allein quer durch Deutschland pilgerte. Wir hatten hier unter den alten Bäumen gute Gespräche über Gott und die Welt.
Solche persönliche Begegnungen bringen mir mehr als eine Predigt.
Die Orgel hätte ich gern gehört.
Nach dem Treffen mit dem Rucksack-Pfadi hatte ich ein “Date” mit Till Eulenspiegel persönlich.
Bereits an der Kirche sah ich den 1530 erstellten Gedenkstein für Till Eulenspiegel, der oft fälschlicherweise als sein Grabstein bezeichnet wird, mit der Aufschrift, dass Till Eulenspiegel in Mölln im Jahr 1350 gestorben sein soll.
Der Stein erinnert an die Tatsache, dass Till Eulenspiegel nach der Überlieferung senkrecht begraben wurde, weil sein Sarg bei der Beisetzung abstürzte – er hat also über den Tod hinaus Unfug gemacht.
Am Fuss des Kirchbergs beim Eulenspiegelbrunnen mit der Eulenspiegel-Skulptur, deren Daumen und Fussspitzen von vielen Berührungen abgewetzt sind – es soll Glück bringen – traf ich Till Eulenspiegel, alias Sven Kolb, der den Till Eulenspiegel im Auftrag der Stadt nicht nur darstellt, sondern von Herzen vorlebt.
Till Eulenspiegel wird in Mölln bereits seit vielen Jahrzehnten von unterschiedlichen Darstellern präsentiert.
Sven Kolb aus der hessischen Stadt Linsengericht ist seit 2017 beim Tourismus- und Stadtmarketing als hauptamtlicher Till-Eulenspiegel angestellt – und er ist gut!
Sven Kolb erzählte mir Tills Lebensgeschichte.
Macht er da wirklich ein Selfie – oder hält er einen Spiegel?
Ach ja, heutige Tills tragen Rasta-Locken.
Er empfindet seine Rolle nicht als Job, sondern als Berufung. Er hat immer einen lockeren Spruch bereit.
Es lief vieles schief in Till Eulenspiegels Leben und es begann bereits bei der Taufe: Die Patin stolperte (betrunken) auf dem Heimweg von der Kirche und fiel in eine Pfütze. “Da halfen die anderen Frauen der Badmuhme mit dem Kind wieder heraus, gingen heim in ihr Dorf, wuschen das Kind in einem Kessel und machten es wieder sauber und schön. So wurde Eulenspiegel an einem Tage dreimal getauft: einmal in der Taufe, einmal in der schmutzigen Lache und einmal im Kessel mit warmem Wasser.”
Geschichte hören von Sven Kolb gesprochen.
Diese etwas derbe Geschichte ist auch beliebt. “Ich halte Euch den Spiegel vor”, ist Tills Leitsatz. In diesem Sinne: Als er hinter seinem Vater auf dem Pferd sass, präsentierte “Ulenspegel” den keifenden Dorfbewohnern seinen blanken Hintern.
Geschichte hören von Sven Kolb gesprochen.
Das mittelniederdeutsche Wort “ulen” bedeutet auch „wischen“, und das Wort “spegel” hat auch die Bedeutung Gesäss. Noch heute wird in der Jägersprache das helle Fell am Hinterteil von Reh und Hirsch „Spiegel“ genannt. Der Ausruf “Ul’n spegel” bedeute also „Wisch mir’n Hintern“, etwas salopper: „Leck mich am A…“
Sven Kolb hat eine spannende berufliche Laufbahn: Er war beispielsweise auch Spitalclown.
Er tritt bei allerlei Gelegenheiten auf. “Ich bin käuflich”, meinte er in treffender Till-Manier.
Man kennt und grüsst ihn, wenn er in seiner “Uniform” mit Schellengebimmel durch den Ort geht – immer bereit zu Spässen. Sie nennen ihn Till – und nicht Sven. Er sagt von sich, er sei ein eher zurückhaltender Mensch, als Till aber darf er frech sein und die Leute anpöbeln. Rauchen tut er aber nur als Sven – und nie als Till.
Beliebt sind besonders die Eulenspiegel-Festspiele, die alle drei Jahre auf dem historischen Marktplatz aufgeführt werden.
Auf dem Marktplatz befinden sich auch das Eulenspiegel-Museum und das Heimatmuseum im Alten Rathaus.
Das gotische Möllner Rathaus aus dem Jahr 1373 ist neben dem Lübecker Rathaus das einzige aus dieser Stilepoche in ganz Schleswig-Holstein.
Tills Konterfei prangt an Souvenirshops, es gibt ihn als Gebäck und in Marzipan. Den Glücksbringer findet man auf Puzzles, Tassen und Schlüsselanhängern. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Kinderbücher – doch Till Eulenspiegel hat nicht nur Kindern was zu sagen.
Eulenspiegel wird in heutigen Illustrationen oft mit einer Narrenkappe dargestellt. Er ist aber kein einfacher “Blödeltyp”, wie man sie aus Fernsehshows mit und ohne Narrenkappe kennt.
In den Geschichten scheint er seinen Mitmenschen an natürlicher Intelligenz, gesundem Menschenverstand und Witz überlegen.
Eulenspiegels Streiche folgen oft einem Grundmuster. Er nimmt eine bildliche Redewendung wortwörtlich. Er bäckt Eulen und Meerkatzen und wird gefeuert vom Bäcker.
Zu meinen, er habe dieses Wörtlichnehmen lediglich als ein Mittel gebraucht, um die Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen blosszustellen und seinem Ärger über die Missstände seiner Zeit Luft zu machen, greift zu kurz. Manchmal ist er einfach fies. Und trotzdem, er ist mehr als eine Person mit rebellischer Unangepasstheit, kein trivialer Vorgänger von Charly Chaplin, sonst hätte er kaum heute noch eine solche Stellung in der Literaturgeschichte.
Als Psychologin und Berufsberaterin fand ich es sehr interessant, über die Offenheit von Sven Kolb diesen “Nischenberuf” kennen zu lernen und mir darüber Gedanken zu machen, wie man sich in einer solchen Rolle wohl über die Jahre fühlen mag.
Was hat nun Till Eulenspiegel mit Mölln zu tun? In den vergangenen 200 Jahren wurden immer wieder Belege für die tatsächliche Existenz der historischen Person Till Eulenspiegel gesucht.
Ob Till Eulenspiegel je gelebt hat, weiss man also nicht. “Sicher” ist aber, dass er 1350 als “Tilo dictus Ulenspegel” in Mölln starb.
Im Anschluss an die Gespräche mit Sven zeigte mir Elke Heitmann die Stadt.
Ich mag die Backsteinarchitektur.
Auch diese, die bestimmt kein kostengünstiger Wohnraum ist.
Ich mag die Hinterhöfe.
Und das viele Grün.
Ich mag das liebevoll Biedere.
Und das bunte Kopfsteinpflaster, das erst bei Regenwetter so richtig bunt wird.
Ich mag die Fachwerkhäuser.
Und würde gern alle Leute kennen lernen, die in diesem Haus geboren wurden, geliebt und gelebt haben und gestorben sind.
Und ich mag die Nähe zu den Seen.
Und dass die Zeit hier nicht stehen geblieben ist, wie die ukrainische Flagge beweist.
Von Mölln fuhr ich mit dem Bus nach Ratzeburg.
Die Stadt liegt am Ratzeburger See, wo ich eine Rundfahrt machte – ideal, um die Füsse nach zwei Stadtführungen zur Ruhe kommen zu lassen.
Ratzeburg hat einen Dom, 1170 fertiggestellt, der das Schicksal vieler betagter Gotteshäuser teilt.
Es geht von Renovation zu Renovation.
Ratzeburg liegt in einer Seenlandschaft – auf einer Halbinsel mitten im Ratzeburger See. Die kleine Stadt ist heute vor allem für ihre vielen Freizeitmöglichkeiten in und auf dem Wasser bekannt. Beim Schwimmen, Segeln, Paddeln, Surfen – sogar per Wasserfahrrad lassen sich die Seen erkunden.
Die Lage der Stadt ist einzigartig.
Strategisch perfekt gelegen – das wussten schon die Slawen, welche die Stadt gegründet haben. Ein slawischer Fürst namens Ratibor (Ratse) wurde zum Namensgeber der Burg und der späteren Stadt.
Ratzeburg lag damals im Grenzgebiet zwischen Slawen und Sachsen.
1062 wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt.
1154 gründete Heinrich der Löwe das Bistum Ratzeburg und liess wenig später den Dom bauen.
Der Braunschweiger Löwe ist die älteste erhaltene Grossplastik des Mittelalters nördlich der Alpen und erster grösserer figürlicher Hohlguss seit der Antike.
„Auf den Spuren des Löwen“ lassen sich über 35 Stationen alle wichtigen Stellen der Insel begehen. Man folgt einfach den pinkfarbenen Löwenspuren auf dem Boden.
Auch Ratzeburg war 1945 Zwischenstation von Ostflüchtlingen, davon zeugen fast 200 Gräber von Flüchtenden, 25 davon von Kindern.
Otto von Bismarck, der immer mal wieder nach Ratzeburg zurückkehrte, ist Ehrenbürger der Stadt.
Ich erinnere mich gern an die Schifffahrt. Ich kam im letzten Moment, genauer gesagt zu spät, zum Steg – und die Mannschaft nahm mich mit, obwohl sie bereits abgelegt hatten.
Ich erinnere mich an ein leckeres Mittagessen direkt am See, an das Schauspiel der Wolken und an die wunderschönen Häuser mit direktem Seeanstoss.
Wieder an Land, schüttete es wie aus Kübeln.
Ratzeburg wurde seinem Ruf als Wasserkurort gerecht.
Trotz Regen entdeckte ich schöne Häuser.
Dies ist das A. Paul Weber-Museum. Vorne elegant verputzt, seitlich sichtbare Backsteinmauern.
Das Kreismuseum erinnert mich an dänische oder schwedische Bauweise.
Das Gelb des Rathauses verbinde ich eher mit Österreich.
Nass wurde auch die Katze zu Ratzeburg.
Der Regen machte die Klinkersteine zu Klunkersteinen.
Wenn du in der Gunst des Publikums steigst,
so denke an Eulenspiegel und weine;
denn sei versichert, du wirst wieder heruntersteigen.
Moritz Gottlieb Saphir (1795 – 1858)
Informationen
Tourismus-Agentur Schleswig-Holstein
Herzogtum Lauenburg
Mölln Tourismus
Till Eulenspiegel – Sven Kolb: Geschichten (Podcast)
Ratzeburg Tourismus
Informationen zu Till Eulenspiegel in Mölln (mit dem Vorgänger von Sven Kolb)
Dank
Herzlichen Dank, liebe Marta Wrage von der Tourismus-Agentur Schleswig-Holstein, für die Organisation dieses erlebnisreichen Tages. Im echten Norden:-)
Mein Dank geht an Till Eulenspiegel – Sven Kolb. Merci für das gute Gespräch. Danke auch an Uta Steffen von der Herzogtum Lauenburg Marketing & Service GmbH, für die herzliche Begrüssung in Mölln. Lieben Dank an Elke Heitmann für die Führung in Mölln und an den genialen Stadtführer von Ratzeburg, der mich durch den strömenden Regen geführt hat.
Musik
Richard Strauss: Till Eulenspiegel
Zum Hören
ShoreTime 14 – Süsswasseralternative Herzogtum Lauenburg
Wie Till Eulenspiegel einem Esel das Lesen beibrachte
Kinderbuchklassiker
TILL EULENSPIEGEL, Erich Kästner, Walter Trier
Ritanna
Dies Erzählen mit den mitgebrachten Bildern ist wahrlich wie ein Märchen aus Altertum, Mittelalter und Neuzeit, einfach farbig bunt, wie Till Eulenspiegel mit dem Spiegel in Wort und Tun. Es ist herrlich noch und nochmals durchzugehen von Anfang bis zum Ende, das gar kein Ende ist, sondern im Kopf im “Gespühr ” weiterspinnt. Einfach herrlich.
“Solche persönlichen Begegnungen bringen mir mehr als eine Predigt.” Da bin ich der Meinung, dass da noch viel Altertum drinsteckt. Bei uns gibt es keine Predigt mehr, nur noch wie unter alten Bäumen gute Gespräche über Gott und die Welt.